Personen
Prof. em. Dr. Peter von Matt †
Ein homme de lettres, ein öffentlicher Intellektueller, ein herausragender, origineller Literaturwissenschaftler: Das alles war Peter von Matt ohne Zweifel. Und doch lässt sich seine Bedeutung für das literarische Leben im Allgemeinen wie für die Germanistik im Besonderen kaum verschlagworten. Von Matt, der zwei Jahrzehnte am Deutschen Seminar der Universität Zürich Neuere deutsche Literatur lehrte, wirkte stets auch als Bindeglied zwischen Akademie und Öffentlichkeit. Er verstand sich auf die scharfe und kleinteilige Lektüre ebenso wie auf das Skizzieren der grossen Zusammenhänge; sein Misstrauen gegenüber jedem eingeschliffenen Vorverständnis von Texten und seine Begeisterungsfähigkeit für das Neue und Unentdeckte machten ihn nicht nur zu einem begnadeten Hochschullehrer, sondern auch zum gefragten Gesprächspartner auf der Bühne des internationalen Literaturbetriebs.
Geboren am 20. Mai 1937 in Luzern wächst Peter von Matt in Stans auf und legt seine Matur am dortigen Kollegium St. Fidelis ab, das zur damaligen Zeit noch von den Kapuzinern geleitet wurde. Nach einem in Zürich und Nottingham absolvierten Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte promoviert er bei 1964 Emil Staiger mit einer Dissertation über den «Grundriss von Grillparzers Bühnenkunst», 1971 folgt die Habilitation «Die Augen der Automaten», die dem Erzählwerk E.T.A. Hoffmanns gewidmet ist und die schon in nuce erkennen lässt, in welche Richtung sich die Lektüren des Verfassers in den kommenden Jahren bewegen werden. Freuds an Hoffmanns «Sandmann» sich aufrichtende Abhandlung über das «Unheimliche» weist den Weg in eine psychoanalytisch orientierte Literaturwissenschaft, als deren Vertreter sich der soeben zum Assistenzprofessor am Deutschen Seminar ernannte von Matt mit der kleinen, aber wirkungsmächtigen Einführung «Literaturwissenschaft und Psychoanalyse» (1972) alsbald zu erkennen gibt.
Einen Namen macht er sich zuallererst als Dozent, als Pädagoge. Wie kein Zweiter vermag er die Bögen zwischen seinem konkreten Gegenstand und ästhetischen wie ethischen Grundfragen zu spannen. Das Protokoll des Zürcher Regierungsrates, der ihn 1976 auf das zweite notwendig gewordene neugermanistische Ordinariat beruft, konstatiert einen «stetig ansteigenden Lehrerfolg», verweist sowohl auf die «grosse Hörerschaft», die von Matts Veranstaltungen anziehen, als auch auf seine Wertschätzung von Seiten der Studierenden, die insbesondere seine «menschliche Führung» hervorheben.
Unterdessen stellt er auch bereits andernorts die Weichen. Als Friedrich Dürrenmatt testamentarisch verfügt, dass sein Nachlass einem Schweizerischen Literaturarchiv vermacht werden solle – das freilich erst noch gegründet werde muss –, erwirbt sich von Matt als Vermittler grosse, bleibende Verdienste für die Schweizer Literatur. Als treuer Begleiter bleibt er ihr über die Jahre erhalten, als Mentor, als Anwalt wie als Forscher, in ihrem geschichtlichen Werden wie in ihrer lebendigen Gegenwart.
1980 führt ihn eine Gastprofessur nach Stanford und zugleich zur Überzeugung einer öffentlich agierenden Literaturwissenschaft, die sich in seiner 1983 erschienenen «Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts» erstmals abspiegelt. Von hier an erscheinen Peter von Matts Publikationen im Hanser Verlag, er avanciert zum ersten und vielleicht letzten grossen literaturwissenschaftlichen Publikumsautor in deutscher Sprache. Immer noch im Rekurs auf den psychoanalytischen Familienroman, wenn ihm auch niemals in Orthodoxie verbunden, erkunden seine Lektüren dessen Abwege und Verästelungen: Kleists eiserne Väter, die schweigende Mutter der Droste, den verkommenen Sohn Franz Kafka. Von Matts 1989 erscheinende Geschichte der literarischen Treulosigkeit mit dem Titel «Liebesverrat», vielleicht das schönste seiner Bücher, führt seinen enormen weltliterarischen Wissensfundus mit innovativer Gattungstheorie und bewegenden Analysen des Liebesdiskurses von Boccaccio bis Uwe Johnson zusammen; nicht zuletzt findet sich darin, quasi en passant, eine der bewegendsten Ingeborg Bachmann-Lektüren überhaupt. In allen seinen folgenden Schriften – von «Verkommene Söhne, missratene Töchter» (1995) über die Lyrikabhandlung «Die verdächtige Pracht» (1998) bis hin zu seiner Erzähltheorie der Hinterlist «Die Intrige» (2006) – bewahrt sich von Matt dabei den Anspruch, literarische Einzelbetrachtungen in glänzend erzählte Kulturgeschichte zu überführen.
Zugleich etabliert sich Peter von Matt in dieser Zeit als kluger Gesprächspartner und Verfechter eines sich nicht der Öffentlichkeit verschliessenden literarischen Denkens auf internationaler Bühne. Er nimmt Platz in der Jury des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises (1989-1991), ist häufiger Gast im «Literarischen Quartett», wird von Marcel Reich-Ranicki als Beiträger zur «Frankfurter Anthologie» eingeladen, deren erster Preisträger er 1998 er dann auch werden wird. Die Strahlkraft seines Wirkens reicht weit über das Fach hinaus, zahlreiche Preise werden ihm zuerkannt, unter anderem der «Johann-Peter-Hebel-Preis» (1994), der «Prix européen de l’essai Charles Veillon» (2002) und der «Heinrich-Mann-Preis» (2006); 1996 wird er in den Orden «Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste» aufgenommen. Seinen Zürcher Studierenden bleibt er zugleich als empathischer wie fordernder Lehrer bis zu seiner Emeritierung zum Herbstsemester 2002 erhalten.
Seinen Ruhestand hat Peter von Matt nie als einen solchen betrieben, tatsächlich hat er gut die Hälfte seiner Schriften sogar erst nach seiner Pensionierung verfasst. Alle davon sind und bleiben lesenswert, nicht zuletzt das 2012 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete «Kalb vor der Gotthardpost», das ihn noch einmal als den kritisch sich einmischenden, geschichtsbewussten Geist zeigt, der die Bedeutung und Verantwortung der Schweizer Literatur für die demokratische Kultur seinem Land ins Gewissen ruft.
In den Morgenstunden des Ostermontags, des 21.4.2025, ist Peter von Matt verstorben. Das Deutsche Seminar und die Universität Zürich gedenken seiner in Ehren und grösster Dankbarkeit. Sein Leben und sein Wirken verstehen sie als Auftrag, dem Reich der Literatur nicht nur Sachwalter zu bleiben, sondern auch in Zukunft das Tor zu ihm all denen zu öffnen, die von ihm wissen wollen.
Philipp Theisohn
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