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Deutsches Seminar

Blick in den Unterricht: Das Seminar «Gotteszweifel und Willensfreiheit in vormoderner Literatur» von Coralie Rippl

Den eigenen Glauben in Frage zu stellen und die Bedingungen der Möglichkeit freier Entscheidung zu hinterfragen gehörte zu allen Zeiten zur menschlichen Existenz. Auch in unseren säkularisierten Zeiten haben solche Fragen, aktuell angesichts von Pandemie und Rückkehr des Krieges nach Europa, nichts an Aktualität und Brisanz verloren.

Screenshot aus dem Unterricht mit Studierenden und der Dozentin Coralie Rippl

In ihrem Master-Seminar im FS 2022 macht Coralie Rippl sich deshalb gemeinsam mit zwanzig Studierenden auf die Suche nach Äusserungen von Glaubenszweifel und Willensfreiheit in der Literatur der Vormoderne. Die beiden Konzepte verbindet durch die Zeiten hindurch ein spezieller Zusammenhang: Zweifel (mhd. zwîvel im Sinne von ‚zwei-geteilt‘) und Willensfreiheit sind höchst vielschichtig. Je nach Wirkungsbereich treten sie in spezifischer Ausprägung auf und unterliegen ambivalenten Bewertungen. Dabei ist ihr Konnex stets riskant und produktiv zugleich:
Der intellektuelle Zweifel etwa kann, wie die Seminarteilnehmer:innen in der gemeinsamen Diskussion erarbeiteten, zur Revision etablierter Wahrheiten und Strukturen dienen, als essentielle Herausforderung im politischen Bereich wie im sozialen. Als Grenzerfahrung und Ausdruck von Freiheitssuche kann Zweifel aber auch existentielle Dimensionen annehmen. „wê, waz ist got?“ fragt trotzig Wolframs Parzival. Für jeden Menschen kann der Weg vom Zweifel in die Verzweiflung führen. Ein schmaler Grat zwischen Licht und Schatten, den Parzival genauso beschreitet – und überschreitet! – wie Hartmanns Gregorius. Dass die mittelalterlichen Zweifler und Zögerer am Ende dann doch (fast) immer die Erwählten sind, ist nicht vorschnell mit einer allumfassenden Geltung göttlicher Providenz zu erklären. Es zeichnet sich hier, gerade im Gegenteil, eine Positivierung des Zweifelns und eine Ausweitung von Spielräumen menschlicher Willensfreiheit ab.

Das BIld zeigt den Thomasaltar der Kölner Kartause, Wallraf-Richartz Museum Köln, 1481

Gott berühren – Der ungläubige Thomas als der Prototyp des notorischen Zweiflers ist ein biblisches Beispiel für die historisch von allem Anfang an durchaus ambivalente Bewertung des Gotteszweifels. Hier ist der Zweifler trotz allem der Auserwählte, der in einem exklusiven Moment der Gotteserfahrung Gott sogar berühren darf. Ähnlich haben mittelalterliche Dichter Thomas, trotz existierender theologischer Traditionen einer negativen Auslegung des Zweiflers, als positive Figur dargestellt.

Thomasaltar der Kölner Kartause, Wallraf-Richartz Museum Köln, 1481

Das Bild zeigt Brendan in einem Schiff, gegenüber Fabelwesen an Land.

Grundlegend ist für das Seminar dabei der Ansatz historischer Kontextualisierung: Wir dürfen, wenn wir uns mit dem Mittelalter beschäftigen, nicht einfach von unseren heutigen Voraussetzungen ausgehen. Und so ist es gerade spannend, sich zu fragen, was Glaubenszweifel und Willensfreiheit für die Menschen des Mittelalters überhaupt bedeuten konnten und welche Unterschiede oder Konstanten es zu unserem heutigen Denken gibt.

Zweifel als Abenteuer – Ähnlich wie der ungläubige Thomas hatte sich der irische Mönch Brandan aus freiem Willen dagegen entschieden, an Gottes Wunder zu glauben, und wird dafür auf eine lange Abenteuerfahrt geschickt. Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 60, fol. 177r, um 1460.

Die im Seminar erarbeiteten Ergebnisse sind dabei durchaus überraschend: Weder ist das Mittelalter, wie gemeinhin angenommen, die Zeit der pauschalen Verketzerung von Zweifel (vgl. Weltecke 2010) noch ist es die Zeit, in der es keine Willensfreiheit gegeben hätte. Beide Konzepte gilt es für die Vormoderne jedoch noch weitgehend zu entdecken, in all ihren Auffächerungen und Schattierungen, und manche davon muten faszinierend modern an.

Schliesslich kann man das Mittelalter als die Zeit der Erfindung des Spiels und des Gewissens bezeichnen. Spannungen von menschlichem Wollen und göttlichem Willen prägen schon den höfischen Roman, bevor erste Vorläufer-Erzählungen des Faust-Stoffs kursieren (Vorauer Novelle). Gerade die mittelalterliche Literatur ist ein Ort, wo solche Denkfiguren bearbeitet, verhandelt, manchmal ins Extrem getrieben und ausprobiert werden.

Welchen Bezug hat das Thema des Seminars zur Gegenwart? Zwei Studentinnen berichten.

Zwei Studentinnen berichten aus dem Seminar.

So läuft das: Der Seminarplan

1. Sitzung Historische Voraussetzungen
2. Sitzung Willensfreiheit und Arbeit – Ambrosius vs. Augustinus
3. Sitzung Hartmann von Aue, Gregorius I, Prolog und Epilog
4. Sitzung Gregorius II – vrîe wal (V. 1436– 1442): zwîvel und arbeit
5. Sitzung Wolfram von Eschenbach, Parzival I, Prolog
6. Sitzung Parzival II – Hadern mit Gott
7. Sitzung Parzival III – Die Sache mit den neutralen Engeln
8. Sitzung Parzival IV, Zwischenresümee
9. Sitzung Zeitlichkeitsaspekte I – Sind Selbstzweifel im höfischen Roman Gotteszweifel?!
10. Sitzung Zeitlichkeitsaspekte II – Zu spät... Thomas, der auserwählte Zweifler
11. Sitzung Zweifelbuße als Aventiure –
Brandan bei den neutralen Engeln
12. Sitzung Judas, rettungslos Verzweifelter oder Held?
13. Sitzung Doppelgeschichte: Der Verdammte und der Erwählte (Die Vorauer Novelle)
14. Sitzung Abschlussdiskussion

 

Weiterführende Informationen

Stimmen aus dem Seminar

Das Bild zeigt ein Statement eines Studenten aus dem Seminar

Das Bild zeigt ein Statement einer Studentin und die Antwort der Dozentin.

Coralie Rippl

Die Dozentin Dr. Coralie Rippl

Das Bild zeigt ein Statement einer Studentin aus dem Blog zum Seminar.

Das Bild zeigt das Statement eines Studenten aus dem Blog zum Seminar.

Das Bild zeigt das Statement einer Studentin aus dem Blog zum Seminar.

Das Bild zeigt das Statement eines Studenten aus dem Blog zum Seminar.