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Deutsches Seminar abbreviatio

Exposé

Das Phänomen, Kurzfassungen bekannter Texte und Stoffe zu bieten, gehörte schon in der Antike als Prozess des Ordnens, Klassifizierens und Abstrahierens zum grundlegenden Umgang mit den tradierten Wissensbeständen (vgl. Reitz 2007; Horster/Reitz 2010). Brevitas als Terminus ist Teil der antiken forensischen Rhetorik und wird innerhalb der narratio behandelt (vgl. u. a. Kallendorf/Gondos 1994). Eine knappe und zugleich eindeutige Ausdrucksweise ermöglicht es dem Zuhörer, sowohl die Struktur der Darlegung zu durchschauen als auch dem Gesagten genau zu folgen; extreme Kürze hingegen kann zur Unklarheit führen (vgl. Horaz, ‚Ars poetica’, vv. 25f.). Die Forderung nach brevitas, aber auch ihre Ambivalenz im Spannungsfeld von virtus und vitium ist dem Mittelalter durch die Rhetoriken des Cicero, Quintilian und des Auctor ad Herennium bekannt (vgl. u. a. Schmidt 2008). Die mittelalterlichen Poetiken wie die des Matthäus von Vendôme und Galfried von Vinsauf, die das antike Postulat aufnehmen und für ihre je eigenen Zusammenhänge transformieren, kodifizieren, »was bereits geübter und anerkannter Standard literarischer Praxis und sprachlich-formaler Gestaltung in der Literatur ihrer Zeit ist.« (Henkel 2017: 28). Die im Schulunterricht geübten argumenta zu den antiken Epen sind ein frühes Beispiel für die abbreviationes poetischer Texte in gebundener Form (vgl. u. a. Munk Olsen 2009).

Obwohl das Mittelalter »in nahezu allen Gattungsbereichen der lateinischen Literatur solche Abbreviationes« entwickelt (Henkel 1993: 40), blieb die brevitas als Organisationsform literarischen Wissens weitgehend unbeachtet: »Die Forschung hat sich bisher weder mit dem Vergleich von Kurz- und Langfassungen befasst, noch das Stilideal der brevitas mit seinen Auswirkungen auf die mittelalterliche Literatur untersucht.« (Schmidt 2008: 36). Dabei bildet gerade die in den mittellateinischen Poetiken greifbare Gleichzeitigkeit narrativer Entwürfe, in welchen die Erweiterung (amplificatio) oder Kürzung (abbreviatio) eines Stoffes als zwei grundsätzliche Techniken der tractatio materiae beschrieben werden (vgl. u. a. Klopsch 1980; Worstbrock 1985; Knapp 2014), »hinsichtlich Konzeption und praktischer Handhabung den Hintergrund für eine Technik« (Henkel 1993: 40), die sich auch an volkssprachigen Texten des Mittelalters beobachten lässt.

Exemplarisch für diesen Sachverhalt ist die Existenz von frühen, autornahen Mehrfachfassungen in der mittelhochdeutschen höfischen Epik, von sog. »gleichwertige[n] Parallelversionen« (Stackmann 1964: 263). In diesem Kontext sind Quantitätsphänomene zu beobachten, nämlich das ›synchrone‹ Nebeneinander von Lang- und Kurzfassungen eines Textes. Sie bezeugen als unterschiedliche Erscheinungsformen mittelalterlichen Wiedererzählens innerhalb eines Spektrums mit fließenden Grenzen zwei zu den genuinen Möglichkeiten der Gattung gehörende Erzählmodi, in denen die materia mittels des dichterischen artificium in jeweils unterschiedlicher Weise retextualisiert, d. h. immer auch neu ausgelegt wird (vgl. u. a. Worstbrock 1999; Bumke/Peters 2005; Hasebrink 2009): »[W]eder in der religiösen noch höfischen Erzählpraxis [trifft] die strikte Alternative von stabiler materia einerseits, variablem artificium anderseits zu. Denn Sinn liegt den Wiedererzählern vor, und Sinn stellen sie mit ihrer interpretatio poetica zugleich selbst her.« (Köbele 2017: 167). Die frühen auf der Technik der abbreviatio basierenden Fassungen repräsentieren ein literaturgeschichtliches Phänomen, das einen eigenständigen Typus höfischen Erzählens von den Anfängen der Gattung an dokumentiert.

Das Vorhandensein von Fassungsvarianz ist jedoch »keine Eigenart der Epenüberlieferung«, sondern tritt »in verschiedenen Gattungen in unterschiedlicher Form« auf (Bumke 1996: 50f.). Die historische Signifikanz von Kürzungsoperationen dokumentiert sich in einem eigenständigen Profil der Redaktionen, das ein spezifisches historisches Rezeptionsinteresse hervortreten lässt. Dabei ist die Texttypenspezifik der abbreviatio zu berücksichtigen: Denn die Kurzredaktion umfangreicher höfischer Erzähldichtung ist durch andere formale Eingriffe bedingt als die Varianz in lyrischen Texten, in der geistlichen und weltlichen Kleinepik, in der theologisch-philosophischen oder der wissensvermittelnden Literatur (z. B. Enzyklopädistik, Historiographie, Chronistik). Ausgehend von der Annahme, dass weder die Varianz allgemein noch die brevitas als eine Erscheinungsform der mouvance ungeordnet verlaufen, sondern sich auch an den textsortenspezifischen Regeln orientieren, wäre daher zu fragen, inwieweit die Verfahren der Arbeit am Text trotz offenkundiger formaler, inhaltlicher und konzeptioneller Unterschiede dennoch eine prinzipielle Vergleichbarkeit zulassen.

Die Tagung fokussiert auf das poetologische Verfahren der abbreviatio als eines bewussten Vorgangs der Reduktion und als einer sinnstiftenden Tätigkeit des Verdichtens, die von dem durchaus kontingenten Faktum der brevitas als ›bloßer‹ Kürze geschieden werden kann: Die verkürzten Versionen eines Textes verhalten sich relational zur jeweiligen ›Langfassung‹, d. h. dass sich die Charakteristika der Kürzungskategorien erst aus der Zusammenschau mit den umfangreicheren Bezugstexten der Gattung ergeben (vgl. u. a. Baumbach/Bär 2012). Das Textspektrum soll sich nicht auf Erzähltexte des volkssprachigen Mittelalters beschränken, sondern unterschiedliche Genres der (Spät-)Antike, des lateinischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit einbeziehen (z. B. Lyrik, Historiographie bzw. Chronistik, Enzyklopädistik, Philosophie, Theologie). Ziel ist es, in einer über engere Fachgrenzen und einzelne Textsorten hinausweisenden Perspektive Formen und Funktionen des poetischen Prinzips der abbreviatio herauszuarbeiten, um die historische Signifikanz der Kürzungsfunktionen im Spannungsfeld von Latinität und Volkssprache zu profilieren. Denn gerade die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Konzepte dokumentiert, dass ein knapperes, stringenteres Erzählen neben den artifiziellen, besonders den Bereich des stilistischen und rhetorischen ornatus betreffenden Gestaltungsmöglichkeiten eines Stoffes schon immer zu den Möglichkeiten literarischer Produktion gehört hat. Diese »Koexistenz des Divergenten« (Henkel 1993: 50) verweist auf eine Ästhetik des pointierten Erzählens, die auf dem poetologischen Prinzip der abbreviatio basiert. Die von einer textsortenimmanenten Typologie der Kürzungen abstrahierende Beschreibung kann den regelhaften und normativen Charakter, eine Art ›Grammatik‹ der abbreviatio konturieren bzw. die intendierten Bearbeitungstendenzen den kontingenten Kürzungen gegenüberstellen. Zentral wäre dabei die Frage, ob eine texttypenspezifische Poetik der Reduktion angenommen werden kann, oder ob sie sich darüber hinaus in Abhängigkeit vom historischen literarischen Interesse immer wieder neu konstituiert.

Literatur (Auswahl):

 

- Baumbach, Manuel/Bär, Silvio: A Short Introduction to the Ancient Epyllion. In: Brill’s Companion to Greek and Latin Epyllion and Its Reception, hg. von Manuel Baumbach/Silvio Bär, Leiden/Boston 2012, S. ix-xvi.

- Bumke, Joachim/Peters, Ursula: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, Berlin 2005 (ZfdPh Sonderheft).

- Bumke, Joachim: Die vier Fassungen der ’Nibelungenklage’. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin u.a. 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8).

- Frick, Julia: abbreviatio. Zur historischen Signifikanz von Kürzungsfunktionen in der mittelhochdeutschen höfischen Epik des 13. Jahrhunderts. Eine Projektskizze, in: PBB 140.1 (2018), S. 23-50.

- Hasebrink, Burkhard: Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, hg. von Ursula Peters/Rainer Warning, München 2009, S. 205-217.

- Henkel, Nikolaus: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993, S. 39-59.

- Henkel, Nikolaus: Reduktion als poetologisches Prinzip. Verdichtung von Erzählungen im lateinischen und deutschen Hochmittelalter, in: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters, hg. von - Franz-Josef Holznagel/Jan Cölln, Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 27-55.

Kallendorf, Craig/Gondos, Lisa: Brevitas, in: HWRh 2 (1994), Sp. 53-60.

Klopsch, Paul: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980.

- Knapp, Fritz Peter: Poetik, in: Die Rezeption lateinischer Wissenschaft, Spiritualität, Bildung und Dichtung aus Frankreich, hg. v. Fritz Peter Knapp, Berlin/Boston 2014 (Germania Litteraria Medievalis Francigena [GLMF] 1), S. 217-242.

- Köbele, Susanne: Registerwechsel. Wiedererzählen, bibelepisch (Der Saelden Hort, Die Erlösung, Lutwins Adam und Eva), in: Inkulturation. Literarische Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Bruno Quast/Susanne Spreckelmeier, Berlin/Boston 2017 (Literatur. Theorie. Geschichte 12), S. 167–202.

- Munk Olsen, Birger: L’étude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe siècles. 6 Bde., Paris 1982/85/87/89/2009/2014 (Documents, Ètudes et Répertoires).

Reitz, Christiane: Verkürzen und Erweitern – literarische Techniken für eilige Leser? Die „Ilias Latina“ als poetische Epitome, in: Hermes 135 (2007), S. 334-351.

- Reitz, Christiane/Horster, Marietta (Hg): Condensing texts – condensed texts, Stuttgart 2010 (Palingenesia 98).

Schmidt, Paul Gerhard: Die Kunst der Kürze, in: Dichten als Stoff-Vermittlung. Formen, Ziele, Wirkungen. Beiträge zur Praxis der Versifikation lateinischer Texte im Mittelalter, hg. von Peter Stotz, Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 5), S. 23-40.

- Stackmann, Karl: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, in: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag, hg. von Werner Foerste/Karl Heinz Borck, Köln/Graz 1964, 240-267.

- Strohschneider, Peter: Höfische Romane in Kurzfassungen. Stichworte zu einem unbeachteten Aufgabenfeld, in: ZfdA 120 (1991), S. 419-439.

Worstbrock, Franz Josef: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‚Erec’ Hartmanns von Aue, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30.

- Worstbrock, Franz Josef: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142.

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Veranstaltungsort: RAA-G-01