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Aris Fioretos: Lektüren aus dem Verstehenslaboratorium

Bericht aus dem Verstehenslaboratorium. Erste Tagung zum Werk von Aris Fioretos

Vom 7. bis 9. Mai 2025 fand in Zürich die erste wissenschaftliche Tagung statt, die der erstmaligen Erschliessung des Gesamtwerks des schwedischen Gegenwartsautors Aris Fioretos (*1960) gewidmet war. Organisiert wurde sie im Rahmen der Forschungsaktivitäten des Zentrums für literarische Gegenwart www.zentrumfuerliterarischegegenwart.ch, das sich unter anderem der kritischen Reflexion theoretischer Grundannahmen und gängiger Narrative der Literatur- und Kulturwissenschaften verschrieben hat – und dies im Dialog mit aktuellen literarischen Strömungen und nicht zuletzt im Austausch mit Autorinnen und Autoren selbst.

Die Schriften von Aris Fioretos bieten einen idealen Ausgangspunkt für ein solches Vorhaben, da der Autor – zugleich Literaturwissenschaftler und Inhaber eines Lehrstuhls für Ästhetik an der Universität Södertörn – in besonderer Weise mit beiden Seiten dieses Dialogs vertraut ist. Seine Texte sind durchdrungen von kulturtheoretischen, wissenschaftshistorischen, philosophischen und poetologischen Debatten der letzten Jahrzehnte, denen er sich aus dezidiert literarischer Perspektive, mit eigenwilligen Schreibweisen und einer unerschöpflichen Stil- und Formenvielfalt nähert. Fioretos nahm sich dankenswerterweise drei Tage Zeit, um an den Diskussionen teilzunehmen. Auch wenn er sich mit direkten Kommentaren zu den einzelnen Lektüren weitgehend zurückhielt, so war seine Präsenz durch indirekte Verweise und Bemerkungen deutlich spürbar.

Mehrere Beiträge der Tagung widmeten sich der spezifischen Körperpoetologie im Werk von Aris Fioretos. Diese durchzieht nicht nur einzelne Werke, sondern prägt auch das sich fortlaufend im Entstehen befindliche Gesamtwerk. Barbara Naumann (Zürich) hob in ihrem Vortrag, ausgehend von Fioretos’ jüngster Frankfurter Poetikvorlesung Solarplexus (2024), die organische Metaphorik hervor, mit deren Hilfe Texte als fleischliches Gewebe und als energiegeladene, lebendige Organismen konzipiert werden. Irina Hron (Kopenhagen) untersuchte eine Reihe von Fioretos’ Schriften unter dem Aspekt der «Hautlichkeit» und griff dabei auf einen Kunstbegriff von Nietzsche zurück, um verschiedene Hautkonzepte zu analysieren, die Fioretos literarisch und auch literatur-philosophisch miteinander in Beziehung setzt. Georges Felten (Genf) widmete sich den gedächtnistheoretischen Implikationen von Haut, Taktilität und Berührung anhand des Elternnarrativs und des Autorschaftsentwurfs in Halva solen (2012) [Die halbe Sonne]. Eine weitere Perspektive auf Körperlichkeit bot Patrizia Huber (Zürich), die sich auf Sanningen om Sascha Knisch (2002) [Die Wahrheit über Sascha Knisch] konzentrierte, den zweiten Teil der Trilogie über den «neuen Menschen». Sie stellte gendertheoretische Überlegungen im Kontext der Berliner Sexualforschung der 1920er Jahre medientheoretischen Reflexionen über Kino und Irisierung gegenüber, wobei das Motiv eines schillernden, oszillierenden Erzählens im Zentrum stand.

Auch jene Vorträge, die sich mit Wahrnehmung und Bildlichkeit beschäftigten, rückten Fragen der Körperlichkeit in den Fokus. Klaus Müller-Wille (Zürich) zeigte, dass graphische Elemente bei Fioretos nicht bloss Illustrationen, sondern komplexe Scharnierstellen darstellen, an denen unterschiedliche Bildkonzepte diskutiert und mit der jeweiligen Poetologie verknüpft werden. Auf diese Weise wird das Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild produktiv gemacht, um verschiedene Modi der Lektüre und deren sinnliche Voraussetzungen zu thematisieren. Jutta Müller-Tamm (Berlin) analysierte den frühen Essay Den grå boken (1994) [Das graue Buch] als Manifest einer Poetik der Schattierung, der Grauzonen und des Temporären, die sie im Dialog mit William Gass (On Being Blue) und Walter Benjamin als Denkbewegung im Modus des Übergangs deutete – zwischen Farben, Begriffen und Zeiten.
Daneben wurde mehrfach das Interesse an antiker Poetik thematisiert. Rebecka Kärde (Paris/Stockholm) fragte in ihrem Vortrag nach den Bedingungen literarischer Präsenz und untersuchte, wie Texte den Körper der Leserin oder des Lesers affizieren können. Im Zentrum stand dabei Pseudo-Longinos’ Begriff der «Ekplexis» (ἔκπληξις), den Kärde in ihren Lektüren von Vatten, gåshud (2015) [Wasser, Gänsehaut] und Solar Plexus (2024) als Modell einer Poetik der Erschütterung interpretierte. Auch Lothar Müller (Berlin) beschäftigte sich in seinem Vortrag Erstarrtes Wasser. Liquidität und Versteinerung in Fioretos’ Romanpoetik mit den Poetikvorlesungen des schwedischen Autors sowie Querverbindungen zu antiken Motiven. Ausgehend von Fioretos’ literarischer Nähe (und nicht zuletzt Freundschaft) zu Durs Grünbein analysierte er die Unterscheidung zwischen Romanautor und Prosaist. Während das Wasser als Sinnbild für den vielgestaltigen Roman dient, wird die Versteinerung anhand der Darstellung der Medusa auf einem griechischen Vasenbild als «gorgonisches Verfahren» beschrieben und als Erzähltechnik entworfen. Ausgehend vom Zitat «Ich brenne, wie es sich gehört» untersuchte Thomas Macho (Wien) eine Ästhetik des Verschwindens als Gegenbewegung zum Archivieren – und damit als alternatives gedächtnistheoretisches Projekt. Die damit verbundenen Figuren des Brennens, Fliegens oder Hungerns tragen nicht nur die Schmerzbedeutung des englischen «ache» in sich – zugleich Name des Protagonisten in De tunna gudarna (2022) [Die dünnen Götter] –, sondern auch das Suchtpotential und nicht zuletzt die Sehn-Sucht, die all diesen Techniken des Ich-Verlusts innewohnt.

Einen dezidiert philosophischen Zugang wählte Stefan Jonsson (Linköping), der mit dem Begriff der figura ein Schlüsselkonzept vorschlug, um das Verhältnis von Körper und Geist bei Fioretos neu zu denken. Im Rückgriff auf die Begriffe der Vulnerabilität, der Gastfreundschaft und der Liebe entwirft er relationale Konstellationen mit ethisch-politischer Dimension. Auch Isak Hyltén-Cavallius (Lund) ging philosophisch-ästhetischen Fragen nach, insbesondere einem Möglichkeitsdenken im Atlas-Komplex – bestehend aus dem Atlas (2019) [Atlas] selbst sowie den Romanen Irma, 25 [2000/2019] (Die Seelensucherin), Sanningen om Sascha Knisch (2002) [Die Wahrheit über Sascha Knisch] und Nelly B:s hjärta (2018) [Nelly B.s Herz]. Hyltén-Cavallius analysierte in seinem Vortrag das Spiel mit Identität und Differenz sowie das produktive Scheitern reduktiver Erklärungsmodelle, das sich aus der Vielfalt von Genres, Erkenntnistheorien und Perspektiven ergibt.

Christian Benne (Kopenhagen) wiederum widmete sich der spezifischen Intertextualität bei Fioretos, die er – in Abgrenzung zu Harold Blooms Konzept der Anxiety of Influence – als regelrechtes «Einflussbegehren» beschrieb: ein lustvolles Interesse an der Auseinandersetzung mit anderen Autorschaften und am literarischen Dialog, etwa mit Nelly Sachs und Vladimir Nabokov. 

Den Abschluss und zugleich unerwarteten Höhepunkt der Tagung bildete ein kurzer Text, den Aris Fioretos selbst in Form einer Danksagung vortrug. Darin bezeichnete er die über drei Tage geführten Diskussionen als eine Fortführung und Weiterentwicklung des von den Surrealisten um 1925 entwickelten Spiels Cadavre exquis – allerdings hier nun nicht mehr zur Erzeugung beliebiger Text- oder Bildfolgen, sondern vielmehr zur Hervorbringung eines dichterischen «Wesens» – dem Werk –, das aus Haut, Muskeln, Irisen und einem Geschlecht besteht: ein vorzüglicher Leichnam, «der ab sofort keiner mehr ist».

Irina Hron und Klaus Müller-Wille
Kopenhagen und Zürich, Juli 2025

 

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